Der Götze Lollus in der alten Stadt Schweinfurt

Vor langer Zeit lag die Stadt Schweinfurt nicht da, wo sie jetzt liegt, sondern ein ganzes Stück mainaufwärts, dort, wo man noch etliche Gärten und Weinberge die Altstadt nennt. Viele der Weinbergslagen haben noch bis heute die einstigen Benennungen, welche die Straßen führten, als dort Häuser standen, wo jetzt Reben- und Obstbaumpflanzungen grünen. So die Herdgasse, vielleicht von den Viehherden, die langen Schranken, wo der ehemalige Turnierplatz sich befunden haben soll. Dort steht auch im Tannengarten die grüne Tanne, welche genau den Platz bezeichnet, wo in frühen Zeiten das Wirtshaus zum Tannenbaum stand, ein Baum, der stets neu gepflanzt wird, wenn der alte abstirbt, damit das Andenken nicht erlösche. Unter der alten Stadt sollen noch große Schätze und Kostbarkeiten liegen; wer sie zu finden und zu heben wüsste, könnte sehr glücklich werden.

Bei den langen Schranken kam auch einst ein Wasserfräulein zum Turnier und zum Tanz; ein Ritter kämpfte für sie, entzündet vom Reiz ihrer Schönheit. Da lächelte sie mit rotem Mund ihrem Ritter minneseligen Dank, aber sie hatte grüne Zähne, und jener erschrak deshalb. Lachend rutschte die Wasserminne zum nahen Main und tauchte lustig in die Flut hinab.

Im Bereich der alten Stadt, und zwar nicht weit von den langen Schranken, liegt ein Platz, den nennt das Volk den Lollus. Dort war ein heiliger Hain, darin soll in einer Umzäunung ein ehern Götzenbild gestanden haben, welches die Einwohner mit unblutigen Opfern, Trauben und Früchten des Feldes, ehrten. Das Bildnis hieß "Lollus" und soll gestaltet gewesen sein als ein nackter geschürzter Jüngling, in vollem Lockenhaar, einen Kranz von Mohnsamen um sein Haupt und einen über die Brust. Er hob die rechte Hand zum Munde, faßte mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand die Zunge und hielt in der linken einen Becher empor, aus welchem Kornähren sprossten. Über diesen Lollus haben die Gelehrten mancherlei von alledem geschrieben, was sie so eigentlich nicht von ihm wussten. Hernach, als der heilige Kilian in das Frankenland gekommen und das Heidentum allda verdrängt hatte, ist das Bild hinweggekommen und in den Main versenkt worden. Viele Einwohner wurden Christen, und diese waren es, welche das Bild des Loll in das Mainbett versenkten. Als aber einige Jahre später der fromme Glaubensapostel zu Würzburg seinen Martyrertod gefunden hatte, fielen die meisten Bewohner der Gegend vom neuen Glauben ab, ließen sich ein neues Götzenbild des Loll aus Erz gießen und stellten es an dem Orte zur Verehrung auf, den man jetzt das kleine Löllein nennt. Später jedoch ward auch dieses Bild vernichtet.

Seltsam ist allerdings, dass vom Götzen Lollus nur an einem einzigen Ort noch im Bayerlande die Sage wiederkehrt, und zwar zu Großlellen- oder -löllenfeld im Eichstättischen.

 

aus
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930 mit kleinen grammatikalischen Korrekturen und einer Anpassung an die neue Rechtschreibung.

 

Der Schweinfurter Gymnasialprofessor Anton Hirsch schrieb in der Mainleite Nr.3 des Jahrgangs 2007 hierzu folgendes (auszugsweise):

 

Weit in den Nebel der Vorgeschichte führt die Sage vom römisch/ germanischen Abgott Lollus, dem am Löhlein in der Altstadt, irgendwo unterhalb des heutigen Krankenhausareals, ein heiliger Hain samt einer Statue gewidmet gewesen sein sollte. Unglaublich zäh hielt sich dieses Thema, bis herauf in unsere Zeit, trotz der gewaltigen Zahl von Fragezeichen, die da zu setzen sind.

So geriet die Lollussage zur Lollusfrage und wurde etwa um 1995 erneut zum Studienobjekt der Fachhistoriker erhoben. Und man muss zugeben, dass diese moderne akribische Wahrheitssuche, die zunächst nur lokalen Rang besitzt, sogar einen geradezu exemplarischen Charakter erhält: Was ist historisch hinreichend beweisbar? Wo bleibt für uns weiterhin der Nebel der Sage? Und wie weit ist gar von bewusster Vernebelung zu sprechen?

Unter diesem provokanten Titel veröffentlichte Stefan Benz in der

Vierteljahresschrift „Mainleite“ unseres Historischen Vereins

Stefan Benz, Julis Caesar in Schweinfurt? - Zu den Quellen des Lokagottes Lollus, in: Schweinfurter Mainleite 1995/II, S. 12 -22

seinen Weg „zu den Quellen des Lokalgottes Lollus“. Angestachelt hatten ihn offenkundig die kühnen Deutungen von Jakob Amstadt in dessen Buch über die religiösen Vorstellungen der Wandergermanen.
Jakob Amstadt, a.a.O, S.45-56

Mit dem kritischen Hinweis „als Belege kann Amstadt leider nur Ortsnamen beibringen“ begründet Stefan Benz seinen kontroversen Ansatz.
Stefan Benz, a.a.O, Anm. 2.

Solche Suche nach den wirklichen Verhältnissen in sehr früher

Zeit muss natürlich, wie bei der Ursprungssuche eines Baches,

aufwärts hin zur Quelle, hier also: zeitlich rückwärts schreitend

erfolgen. Wirklich interessant ist dieses Zurückgehen zweifellos

gerade bei solch einem Thema, wo der eine hierbei mögliche

Denkansatz (War „Caesar in Franken?“) sogar zur Sache der

Altphilologie wird, also sozusagen über fast zwei Jahrtausende

hinweg bis hin zur Zeit der Germania des Tacitus reichen will!

Wir müssen diese akribisch genaue Darstellung von Stefan Benz

hier nicht nochmals voll ausbreiten, so aufschlussreich sie auch –

über die lokale Schweinfurter Thematik hinaus gelten kann als

ein ganz typisches Beispiel für die Entwicklung humanistischer Wissenschaftlichkeit im Lauf der vergangenen dreieinhalb Jahrhunderte, hier besonders der frühen Barockzeit. Interessenten an dieser Themenerweiterung mögen auf den Originaltext in der „Mainleite“ zurückgreifen.

Das Kernstück der Betrachtung, auf die wir zusteuern, ist ein handschriftlicher Texteintrag in der Sammlung „Collectanea“, die der Schweinfurter Stadtarzt Johann Lorenz Bausch so um 1658 mit dem Anspruch, eine korrekte Stadtgeschichte zu verfassen, mit großem Eifer betrieb.

Gegenwärtig wird im Rahmen des Stadtarchivs und des Histori- schen Vereins Schweinfurt eine umfassende kommentierte Aus- gabe dieser wertvollen 3 Bände, die in der städtischen Bausch- Bibliothek im Museum Otto Schäfer aufbewahrt werden, vorbereitet.

Mein vorliegender Aufsatz gehört in diesen Editionsprozess inso- fern, als das Lollus-Thema ausgerechnet auf den Anfangsseiten des ersten Chronikbandes, paginiert 4-6, in Handschrift zu finden ist.

Bausch hat dort in seiner Einleitungsformulierung die Verehrung eines heidnisch-fränkischen Götzenbildes, ohne einschränkenden Zweifel, am Löhlein im Schweinfurter Altstadtbereich lokalisiert, der Beschreibung „der Skribenten“ folgend, wie er formuliert. Seiner Behauptung, das sei aus der lateinischen Textfassung des unbekannten Beiträgers zu entnehmen, kann man beim besten Willen nicht folgen.

Auf den Text in der Bausch-Chronik und nur auf diesen bezieht sich die gesamte spätere Entwicklung dieser Sage, wie Stefan

Benz nachweist. Kritisch gesehen wird die „Löhlein-These“ außer

bei Hans Graetz schon beim bedeutendsten Schweinfurter

Historiker Friedrich Stein vor über hundert Jahren.

Friedrich Stein: Geschichte der Reichsstadt Schweinfurt, Schweinfurt 1900, Bd.1, S. 3 und 38.

Stein verweist es „völlig ins Reich der Phantasie“, dass man einen „Gott Lollus konstruierte“. Heinrich Christian Beck, der die Sage in seiner Chronik der Stadt Schweinfurt referiert, beschäf- tigt sich besonders mit den darauf bezogenen antiken Quellen, sozusagen dem „Sicambrerproblem“.

Heinrich Christian Beck, Chronik der Stadt Schweinfurt, 1836, Bd. 1, Sp-1-8; Hier wird mit großem Aufwand im Detail die gesamte Problematik der Suche nach dem realen Hintergrund der tradierten Sage bereits ausgebreitet. Hauptsächlich bezieht 

er sich auf Johann Heinrich von Falckenstein in dessen 1734 in Schwabach erschie- nenem Buch „Nordgauische Alterthümer und Merkwürdigkeiten“. Für die Realität hinter der lokalen Sage interessierte man sich offensichtlich also auch außerhalb der Reichsstadt.-

Ähnlich groß ist das Interesse auch schon bei Mühlich und Hahn in deren Chronik der Stadt Schweinfurt, 1817.

Beck war es auch, der auf die älteste gedruckte Darstellung des Themas durch den barocken Schriftsteller Johann Heinrich Bocris hinwies, der als Professor am Schweinfurter Gymnasi- um im Jahre 1716 starb, im Jahre, als dieses sein Werk gerade in Leipzig erschienen war.

Johann Heinrich Bocris, Observatio de Lollo, veteri Franconiae deastro

Die oft kopierte spätere Abbildung des Lollus ist eine Lithographie von Friedrich Kornacher, die auch etwa C.H. Beck in seine Chronik von 1836 mit einfügte.
Die oft kopierte spätere Abbildung des Lollus ist eine Lithographie von Friedrich Kornacher, die auch etwa C.H. Beck in seine Chronik von 1836 mit einfügte.

 

Hier erscheint erstmals auch eine phantasievolle Darstellung des Abgottes als Kupferstich:
Eine jugendliche Gestalt mit weizengelbem Kraushaar, einen Weinpokal mit Ähren als Fruchtbarkeitszeichen in der Linken, mit der Rechten seine herausgestreckte Zunge (als Glücksbringer infolge klugen Schweigens) fest haltend, einen Kranz mit Mohn- kapseln umgehängt, die, nach Stefan Benz, Ruhe, Sicherheit und Genügsamkeit signalisieren sollten, steht auf einem Steinsockel in einem Hain.

Stefan Benz: Julius Caesar in Schweinfurt? Zu den Quellen des Lokalgottes Lollus, in: Schweinfurter Mainleite, 1995/II, S.12-22.

Stefan Benz untersucht auf seinem Weg zu der Hauptquelle die barocken Schweinfurter Schulmeister, die sich des Themas annahmen, zumeist mit strotzendem Vorzeigen ihrer eigenen Gelehrsamkeit. Neben dem genannten J.H. Bocris: J.M. Englert 1705, J.K. Kleibert 1720, J.H. Döderlein und H.v. Falckenstein 1734 und J.W. Englert 1740. Für uns zeigt diese Fülle schreibflei- ßiger Autoren des 18. Jahrhunderts sehr eindrucksvoll: Das war wohl ein geradezu modisches Reizthema geworden!

Da sind wir also am reich sprudelnden Sagenquell, wenige Jahre nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, der für die Schweinfurter eigentlich erst nach dem Abzug der schwedischen Besatzungstruppen im August 1650 richtig zu Ende ging. Es muss eine Aufbruchszeit ähnlich wie bei uns 1945 gewesen sein: Da regte sich intensiv geistiges Leben, zumindest dem Wollen, nicht immer dem Können nach!

Mit diesem Umfeld des Textsammlers für seine „Collectaneen“, mit dem Arzt und Leopoldinagründer Johann Lorenz Bausch, müssen wir uns gleich intensiver befassen.
Stefan Benz berichtet von dem für unsere Frage entscheidenden Brief des Sebastian Franck, zu der Zeit Pfarrer in Platz-Geroda, an Georg Döler, Pfarrer in Oberndorf, datiert 30. Jan.1651, in dem sich diese „Gelehrten“ über Göttervorstellungen der fränkischen Sicambrer wie über einen Zusammenhang zwischen dem Wort „lallen“ und Lollus/Lallus austauschen. Erst Bausch habe als Standort eines Götzenbildes den Ort fixiert, „ubi Suevi per Moenum in Rhaetiam transierunt“, also die „Schwabenfurt“, nach alter humanistischer Deutung.

Bausch selbst habe bei diesem Briefabdruck noch weitere 3

Autoren als Quellen benannt. Diese werden nun gesucht und Cäsar nun, als er in das Gebeit der Sicambrier gekom

untersucht, und dann – mit Recht – disqualifiziert.
Das Fazit des modernen Historikers fiel drastisch aus: Bausch sei ein Geschichtsfälscher, habe eine „bewusste Geschichtsfäl- schung“ unternommen, „die dem Zweck diente, die frühe Geschichte Schweinfurts, von der so entsetzlich wenig Aufregen- des bekannt war, aufzuwerten“.
Stefan Benz, a.a.O., S.18

Auch eine Art archäologischer Beweisführung (im Main sei eine eherne Statue gefunden worden) wird als komplette Erfindung Bauschs mitgezählt zu dem Endergebnis der „Fälschungs- Machenschaft Bauschs“. Freilich wird zugestanden, diese „Lollus- Erfindung“ sei „in patriotischer Absicht „geschehen: „Schweinfurt, wohl mit einem Image-Problem behaftet, soll in die Reihe der bedeutenden deutschen Städte eingereiht werden, wobei Bedeu- tung über Historie definiert wird.“

Stefan Benz, a.a.O., S.19

Nicht Widerspruch gegen die sachlichen Ergebnisse des akri- bisch arbeitenden modernen Historikers veranlassten mich damals zu einem Versuch, die so außergewöhnlich schroffe Abwertung des Stadtarztes und Leopoldina-Gründers Bausch als „bewussten Fälscher“ abzumildern, vor allem durch den Blick auf sein Umfeld und auf den wohl damals nicht anders möglichen Wissenstand.

Anton Hirsch: Zur Entstehung der Lollus-Sage, in: Mainleite 1995/IV, S.22-27

Auch dieser Text soll hier nicht erneut ausgebreitet werden. Vor allem für Vereinsmitglieder ist er in der „Mainleite“ leicht greifbar. Einige Hinweise sollen genügen:
Natürlich stand am Anfang auch meiner Untersuchung die gar nicht neue Feststellung: „Es gab keinen Lollus am Löhlein!“ Alle Wiedergaben der Sage wie auch die so verführerisch schönen Abbildungen des Lokalgötzen sind zurückzuführen auf jenen Paragraphen 4 der historischen Sammlung Bauschs, die er für die Frühgeschichte seiner Heimatstadt zunächst wohl auf 3 Sei- ten frei gehalten, dann durch (einen?) „Skribenten“ hat ausfüllen lassen, was die besondere Handschrift der Blätter verrät. Zugegebenermaßen hat Bausch als Redaktor tatsächlich die Verantwortung für die Quellenechtheit hier weitergegeben an seine Beiträger, die „Skribenten“, und zwar mit der handschriftli- chen Randbemerkung zum wiedergegebenen Brief des Sebastian Franck, die Existenz des Götzenbildes sei „aus folgenden Schrei- ben sehr schön zu benehmen“. Er sah eben die ihm bekannten und wohl sogar befreundeten Pfarrer Franck und Döler als Fach- leute an. Eine historische Bewertung von heute aus muss also dieses gesellschaftliche Umfeld mit einbeziehen.

Stefan Benz wertete die ersten drei der bei Bausch bzw. bei den ihm zuarbeitenden „Skribenten“ vorzufindenden Quellenangaben – ohne weitere Beweise seinerseits – als „fingiert“ ab, was immer man darunter verstehen soll.

Er verzichtete dann aber auf die Nachsuche bei weiteren dorti- gen Angaben. Hier aber gerade hätte für einen aufmerksamen Leser jener kritisierte Sebastian Franck durchaus wenigstens einen Versuch wissenschaftlich vorsichtigen Herangehens vor- weisen können, weil er nämlich mit den Formulierungen „refert“ und „narratur“ durchaus seine Fähigkeit zu kritischer Distanz bei seinen Quellenvorlagen zumindest andeutete. Diese zitierten Bücher, mit Erscheinungsjahren zwischen 1557 und 1612, hatte er allerdings bereits ungenau tituliert. Sie lagen also vermutlich nicht direkt vor.

Dennoch sollte so etwas gerechterweise als ein zwar unvollkom- menes, aber immerhin um Wissenschaftlichkeit bemühtes Be- streben anerkannt werden, meinte ich. Und daher kritisierte ich die doch sehr harsche Kritik, Bausch sei „bei der Vernebelung seiner Angaben sehr geschickt vorgegangen“. Der Schluss, der entscheidende Franck-Brief sei „genau so fingiert wie Bauschs Literaturangaben“ erschien und erscheint mir daher anzweifel- bar.

Mit dem Blick auf die vermutlichen Beiträger Bauschs, nämlich die „Skribenten“ Sebastian Franck und Georg Döler/Döhler, dazu noch auf eine weitere Gestalt dieses Umfelds, nämlich auf den ebenfalls am Schweinfurter Gymnasium tätigen Johann Elias Loelius, wollte ich das Verdikt von Stefan Benz vor allem über die „Fälschungs-Machenschaften“ des Arztes und Naturforschers Bausch etwas abmildern....